Mitschriften des Gerichts - Keine Auskunftsansprüche in Strafsachen?
Die vorwiegend im Strafrecht tätigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte kennen das: Das Gericht vernimmt einen Zeugen und fertigt handschriftliche Notizen an. Ob das Gericht auch die Antworten auf die Fragen der Verteidigung gewissenhaft notiert, kann nur selten nachvollzogen werden. Aus Sicht der Verteidigung stellt sich daher die berechtigte Frage, ob nicht die Möglichkeit besteht, die handschriftlichen Notizen einzusehen.
Während der Bundesgerichtshof in zivilgerichtlichen Verfahren einen Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör zumindest für möglich hält (BGH, Urteil vom 05. Juli 1972 – VIII ZR 157/71; differenzierend: BGH, Urteil vom 24. Oktober 1990 – XII ZR 101/89), verneint der Bundesgerichtshof in Strafsachen ein Einsichtsrecht in die handschriftlichen Notizen des Gerichts kategorisch (BGH, Urteil vom 18. Juni 2009 – 3 StR 89/09).
Ist es nicht absurd, dass im zivilgerichtlichen Verfahren, wenn also zwei Bürger gegeneinander streiten, unter bestimmten Umstände ein Einsichtsrecht in die Mitschriften des Gerichts besteht, während dies im Strafverfahren kategorisch ausgeschlossen ist? Und wie ist dies mit den Landesdatenschutzgesetzen bzw. dem Bundesdatenschutzgesetz vereinbar, dass Betroffenen ein starkes Auskunftsrecht zubilligt? Verstößt dieses Praxis möglicherweise gegen das Grundgesetz? Die in verschiedenen Kanzleien tätigen Berliner Rechtsanwälte Yves Wiemann und Dr. Stephan Gärtner müssen diese Frage immer wieder aufwerfen und beantworten. Beide wissen genau, dass man mit diesem Problem umgehen muss. In einer Verhandlungspause sprachen Yves Wiemann und Dr. Stephan Gärtner über dieses Thema. Es folgt das Protokoll.
Dr. Gärtner: Hallo Herr Kollege. In der einen oder anderen Verhandlung interessiert mich schon, was ein Richter so mitschreibt, wenn ein Zeuge aussagt. Geht Dir das ähnlich?
Yves Wiemann: Wem sagst Du das! Gerade im Hinblick auf Verfahren vor den Strafgerichtskammern der Landgerichte ist dort mein Interesse am größten, da bei diesen Verfahren anders als bei Verfahren vor den Amtsgerichten keine Vernehmungsprotokolle über Zeugenangaben angefertigt werden. Ich meine damit natürlich die Vorschrift des § 273 Absatz 2 StPO. Einerseits kann der sogenannte Tatrichter gemäß § 261 StPO im Rahmen einer gesetzlich normierten eigenständigen Beweiswürdigung fast nach Gutdünken eigene Wertungen vornehmen und „Recht“ sprechen, andererseits ist der beflissene Strafverteidiger beinahe jedes mal dazu verdammt, dem Tatrichter bis zum Schluss nicht in „die Karten gucken“ zu können. Es fällt daher schwer die jeweilige Beweislage während der Verhandlung gerade im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage richtig einschätzen zu können, was wiederum Schwierigkeiten im Hinblick auf die weitere Verteidigungsstrategie, beispielsweise die Stellung weiterer Beweisanträge nach sich zieht.
Dr. Gärtner: Nun während in Zivilsachen sog. Berichterstattervermerke manchmal eingesehen werden dürfen, habe ich kürzlich eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen gefunden, die das im Strafprozess ausschließt. Da heißt es wörtlich: „Im Bereich der Justizbehörden sind vom Akteneinsichtsrecht ausgenommen etwa entsprechende Bestandteile der staatsanwaltschaftlichen Handakten, Notizen von Mitgliedern des Gerichte während der Hauptverhandlung oder so genannte Senatshefte.“ Ist das mit Artikel 103 Absatz 1 GG vereinbar? Yves Wiemann: Artikel 103 Absatz 1 GG besagt, dass jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Was heißt das eigentlich genau? Jedenfalls muss einem in einem solchem Maße rechtliches Gehör verschafft werden, dass man Gelegenheit bekommt sämtliche belastenden und entlastenden Informationen zu erhalten die für eine effektive Verteidigung im Rahmen eines fairen Verfahrens auf Augenhöhe aller Beteiligten notwendig sind. Aber auch innere Umstände einzelne Verfahrensbeteiligter müssen unter Umständen angezeigt werden so muss ein Richter diejenigen Umstände, möglicherweise auch inneren Einstellungen den Verfahrensbeteiligten mitteilen, die seine Ablehnung im Sinne der §§ 22 ff. StPO rechtfertigen können und darüber hinaus diesen Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Wenn es dich interessiert schau doch mal in die Entscheidung des BVerfG vom 08.06.1993- 1 BvR 878/90 oder in die NJW Jahrgang 1993, Seite 2229.
Dr. Gärtner: Nun gut. Zusätzlich denke ich, dass eine Verweigerung auch gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verstößt, welches ja auch das Recht umfasst, Auskunft zu verlangen, über sämtliche zur eigenen Person gespeicherten Daten. Das ergibt sich auch aus der europäischen Richtlinie 95/46/EG. Deshalb denke ich, dass man vor Amts-, Land- und Oberlandesgerichten durchaus den Versuch unternehmen könnte, hier Auskunftsansprüche nach den Landesdatenschutzgesetzen geltend zu machen.
Yves Wiemann: Stephan, wie immer bin ich von deinen innovativen Gedankengängen beeindruckt. Wahrscheinlich sprichst Du damit die grundsätzlichen Voraussetzungen zur Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten gemäß Artikel 7 der europäischen Richtlinien 95/46/EG an. Wenn man sich jedoch das uns nahestehende Berliner Datenschutzgesetzt ansieht, insbesondere § 4 des Gesetzes, sind personenbezogene Daten Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person(Betroffener). In Strafverfahren werden aber genau diese Daten im Rahmen der Erörterung der persönlichen Verhältnisse oder für dessen Identifizierung gegebenenfalls ohnehin öffentlich gemacht und sind daher dieser Öffentlichkeit auch zugänglich. Dabei wird nach meinem Kenntnisstand dem Zeugen eines Strafverfahrens die Möglichkeit gegeben, anstelle seiner genauen Wohnanschrift, lediglich seinen Wohnort anzugeben. Darin könnte man jedenfalls eine zulässige Einschränkung der Datenverarbeitung sehen.
Dr. Gärtner: Und wenn alles nicht hilft, dann muss man nach jeder Zeugenaussage eine Erklärung nach § 257 StPO abgeben. Was hältst Du davon?
Yves Wiemann: Dies kann man aus meiner Sicht nicht oft genug machen. Gerade das Erklärungsrecht des Verteidigers nach jeder einzelnen Beweiserhebung gemäß § 257 Absatz 2 StPO – sofern dies schriftlich erfolgt, kann eine gewisse Reaktion bei Staatsanwaltschaft oder gar bei Gericht hervorrufen, die für die Einschätzung der Wertigkeit des Beweismittels hilfreich sein kann. Das verschriftliche Erklärungsrecht ist als wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens auch zum Hauptverhandlungsprotokoll zu nehmen und steht daher im Falle der Einlegung der Revision auch zur Disposition. Aufgrund des im deutschen Recht (leider) noch nicht ernst genommenen und daher auch (zu Unrecht) selten angewandten sogenannten opening statement, das heißt die sofortige Erwiderung auf den Inhalt der Anklageschrift nach deren Verlesung durch die Staatsanwaltschaft seitens der Verteidigung, sollte der anspruchsvolle Verteidiger seine Sichtweise und sein Verständnis von dem Ergebnis der soeben durchgeführten Beweisaufnahme dem Gericht mitteilen. Möglicherweise ein probates Mittel den Schöffenrichtern deren natürliche Voreingenommenheit durch die Verlesung der Anklageschrift entgegenzutreten.
Das wichtigste im Überblick:
Es gibt derzeit keinen Akteneinsichtsanspruch, der auch handschriftliche Notizen von den Richtern in Strafsachen umfasst.
- Dies könnte möglicherweise gegen das Grundgesetz oder zumindest die europäische Richtlinie 95/46/EG verstoßen.
- Es empfiehlt sich ggf. nach jeder (wichtigen) Zeugenaussage eine Erklärung nach § 257 StPO abzugeben.